Kulturzugangsgerät

Der von Lisa Rosa in das Feld eingeführte Begriff des Kulturzugangsgerätes (hier) bekommt in Bezug auf Flucht eine unfassendere und andere Bedeutung.

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Im Rahmen des Projektes Traiskirchen der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich durfte ich unbegleitete Minderjährige aus dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen unterrichten. Da wir – die Vortragenden des ersten Wochenendes – weder wussten, wie viele Flüchtlinge noch welchen Alters noch welchen Wissenstandes uns erwarteten, war die Vorbereitung dementsprechend schwierig. Es kamen mehr, sie waren älter als erwartet (zwischen 14 und 18 Jahren) und ihre Sprachkenntnisse waren sehr unterschiedlich. Eines war aber allen gemeinsam: sie wollten lernen! Sie halfen sich gegenseitig, die Geübteren machten den Dolmetscher für die neu Angekommenen und sie hatten Freude dabei – auch nach 4 Stunden Unterricht am Stück. Und zum Abschied ein Satz, den man als Lehrender nicht allzu oft hört: „Darf ich morgen wieder kommen?“

So gut wie alle hatten ihre Smartphones mit dabei, viele waren besser als mein eigenes. Diese „Handtaschen der Hermine mit dem unaufspürbaren Ausdehnungszauber“ (lies nach bei Jöran Muuß-Merholz) sind für sie Kulturzugangsgeräte in mehrfacher Hinsicht. Sie garantieren ihnen den Zugang zu der Kultur aus der sie kommen. Mit dem Gerät sind sie in Kontakt mit ihrer Familie, die zurückgeblieben ist oder über andere Länder verstreut ist. Es eröffnet ihnen aber auch Zugang zur neuen Kultur, viele von ihnen hatten ein Onlinewörterbuch offen, schlugen nach, recherchierten. Ein Afghane wollte von mir noch einmal  die Aussprache eines Wortes hören, nahm es kurzerhand mit seinem Smartphone auf damit er es sich später im Aufnahmezentrum noch einmal anhören konnte. Zugang zur alten Kultur, Zugang zur neuen Kultur, nicht einen Augenblick habe ich daran gedacht, ihnen die Nutzung zu verbieten.

Das Smartphone hat für sie große Bedeutung, größere als für mich. Schließlich habe ich noch andere Kulturzugangsgeräte, die ich nutzen kann. Für sie ist es das entscheidende Gerät um mit der Welt in Kontakt zu treten. Im Gegensatz zur rechten Hetzeria habe ich vollstes Verständnis, dass Flüchtlinge ein besseres Smartphone besitzen als ich selbst.

Zum Thema: Roaming umgehen, Leben retten: Wie Flüchtlinge Smartphones nutzen

 

 



2 thoughts on “Kulturzugangsgerät”

  • Sehr schön! In meiner umfassenden Vorstellung von dem, was „Kultur“ ist – nämlich die jeweilige historisch-spatiale Form des Menschen, seine Gesellschaftlichkeit zu organisieren – hat das Kulturzugangsgerät Smartphone als soziales Überlebensgerät für Flüchtlinge natürlich keine neue, andere Bedeutung bekommen, sondern zeigt eine neue Konkretisierung derselben umfassenden Bedeutung, denn das Flüchtlings- und Migrationsphänomen im 21. Jh. ist natürlich ein historisch konkretes Phänomen der Kultur (Spätfolgen Kolonialisierung, Spätkapitalismus, Klimawandel etc.)

  • Das kann ich nur bestätigen, auch wir nutzen das Smartphone zum Übersetzen, wenn mit Englisch, Händen und Füßen nichts mehr geht und wenn die Themen sehr komplex werden. Edwar hatte nicht mal mehr Schuhe um mit mir rauszugehen, aber das Handy war ihm das Wichtigste und ich habe inzwischen auch gut verstanden warum. Marlis

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